Beiträge zur Kompositionspädagogik und grafische Partituren (Haugg, G.)

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Format: A4 quer

Umfang: 65 S.

ISBN: 9783935638999

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Beschreibung

Musik – Grafik – Musikalische Grafik

Aggregatzustände
Musik ist schon ein eigentümliches Phäno­men. Wie Wasser besitzt sie mehrere Aggre­gatzustände. Das war nicht immer so. Als sie noch ausschließlich mündlich weiter­gegeben wurde, kannte sie nur einen Zustand: den klanglichen. Das heißt, sie war eine flüchtige akustische Erscheinung wie die gasförmige Form von Wasser, um im Bild zu bleiben. Später dann, im frühen Mittelalter, als die Musik immer komplexer wurde, als es galt Klangorganisationen in immer größerem Ausmaß zu bewerkstelligen, kristallisierte sich in unterschiedlichen Vari­anten ein zweiter Aggregatzustand heraus: der schriftliche. Mit ihm war es möglich, die Flüchtigkeit auszutreiben, klang­li­che Ideen festzuhalten, also zu speichern. Da aber niemals alle Details einer musikalischen Erfindung notierbar waren, blieb auch bei diesem Zustand immer ein Rest Unverbindlichkeit und Flüchtigkeit, vergleichbar etwa mit dem flüssigen Zustand des Wassers. Mit der Er­findung der Elektrizität im 20. Jahrhun­dert kam schließlich der dritte Aggregatzustand hinzu, den ich als „gefrorene Zeit“ cha­rakterisieren möchte: die Speicherung auf einem Medium wie Schallplatte, Ton­band oder auf einem digitalen Medium. Ein ganz besonders flüchtiges Stadium im Zwischenbereich von Klang und Bild ist die Musikalische Grafik.
Entwicklungsgeschichtlich geht die Ent­stehung der Notenschrift einher mit dem Bestreben, das Moment des Flüchtigen bannen zu wollen, um seiner habhaft zu werden und es zu jeder Zeit verfügbar zu machen: das Haftende und Zusammen­haltende einer Schrift versetzt Musik in einen lesbaren Aggregatzustand, durch den sie reproduzierbar, aber auch kompo­nierbar wird. Musik steht uns durch ihre Aufzeichnung zur Verfügung. Wir können sie damit analysieren, manipulieren und sie in unseren Entwicklungsprozess mit einbeziehen. Die Notenschrift ist also ein Speichermedium von Klang. Die Noten­schrift ist zugleich aber auch mehr und weniger als eine Schrift: sie ist ein Bild, eine Werkzeichnung, eine grafische Darstellung, ihr ist mithin immer auch ein gewisser ästhetischer Wert eigen. Sie ken­nen sicherlich die wunderschönen Tabulaturen des Mittelalters, die Musik­drucke Josquin Desprez‘ oder die dyna­mische, die klangliche Linienführung gera­de­zu nachzeichnende Handschrift Jo­hann Sebastian Bachs, die in Drucken mittlerweile so manches Wohnzimmer schmückt. Diese ästheti­sche Komponente erhielt im 20. Jahrhunderts teil­weise ei­nen Eigenwert, in dessen Folge sich eine vollkommen neue musikalische Gattung, die Musikalische Grafik, heraus­kristallisieren konnte.
Hintergründe eines Wandels
Notation ist kein „Ding an sich“ sondern Re­sultat vielschichtiger sozialer, ästhe­tischer und kompositionstechnischer Pro­zesse und wirkt ihrerseits wiederum intensiv auf diese zurück. Wand­lungen der Notenschrift sind daher stets innerhalb dieses kom­plexen Beziehungsgefüges zu sehen. Analog dem bedeutsa­men Wandel um 1600 von der weißen Mensuralnotation zur heute zum überwiegenden Teil noch gültigen Symbolnoten­schrift und von der Stimmenordnung zur Partiturordnung kann auch der gegenwärtige Umge­stal­tungs­prozess nicht als auto­nom nota­tions­technischer Vorgang gewertet wer­den. Notati­onsveränderungen waren damals ebenso Resultat als auch Vor­aussetzung von Mutationen innerhalb der musikalischen Ästhetik, Aufführungspraxis und Kompositionstechnik, wie sie es heu­te auch sind. Und so, wie zu jener Zeit damit in unmittel­barem Zusam­menhang Veränderungen im sozialen Be­reich standen – man denke an die Heraus­bildung des Komponisten als ei­genständiger Beruf und entsprechende In­di­vidualisie­rungserscheinungen oder an den Wandel im musikalischen Kommunikationsprozess von der Umgangs- zur Darbietungs­musik – müsste ähnliches auch heute zu konstatieren sein. Die Umgestaltung der Notenschrift, wie sie für die Mitte des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist, ist demnach als Syndrom der­artiger Erscheinungen zu erfassen und darzulegen.
Erst durch die Notation kann der Kom­ponist seine Klangvor­stellungen fixieren, dadurch dem Interpreten mitteilen, um schließlich eine akustische Realisation zu ermöglichen, durch die ein musikalisches Kunstwerk seine Funktion im Kunstpro­zess erst zu erfüllen vermag. Eine Aus­nahme in diesem Zusam­menhang bildet die elektroakustische Musik, bei der der Komponist Schöpfer und gleichzeitig Interpret seines Werkes ist. Eine schrift­liche Form ist hier nicht mehr nötig.
Die musikalische Schrift muss also zwei Funktionen erfüllen, die im dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Einerseits hat sie kompositorische Intentionen gra­fisch angemessen zu transkripieren, ande­rerseits sollte sie diese in jederzeit repro­duzierbarer Form festhalten. Sie ist sozusa­gen ein Code, der sowohl den Erfordernis­sen des Kompostionsprozesses gerecht werden muss als auch den technischen Voraussetzungen der Klangerzeuger und deren spezieller Handhabung durch den Instrumentalisten. Dabei spielt die wech­selseitige Beeinflussung von kompositori­scher Intention und grafischer Darstellung, also Codierung, eine besondere Rolle. In­ner­halb dieses Spannungsfeldes ist auch der notationstechnische Schlüs­sel zu fin­den, weshalb veränderte Orga­ni­sationsformen und neue Bezugs­systeme des musikalischen Materials neue Überlegungen zur Beschaffenheit und Funktion der musikalischen Schrift auslösten. Entsprechend der sich all­mählich verändernden Vorstellungen vom Gehalt der Musik und ihrer sozialen Funktion galt es Notationen zu finden, die der neuen Form- und Klangwelt möglichst adäquat sind und zugleich dem Musiker weiterhin klare Interpretationsanwei­sungen vermitteln. Auf Grund solch historisch gewachsener Kommunikations­mechanismen war man, abgesehen von eini­gen wenigen Ausnahmen in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts, bestrebt, die Verbindung zur Vergangenheit nicht abreissen zu lassen, sich also weiterhin ausschließlich der überlieferten Symbolnotenschrift zu bedienen, bezie­hungsweise diese geringfügig zu erweitern. In der Mitte des 20. Jahrhunderts war jedoch die Divergenz zwischen den Dar­stel­lungsmöglichkeiten dieser Schrift und den veränderten ästhetischen sowie kom­positionstechnischen Anforderungen so groß geworden, dass eine Beschränkung auf sie allein unmöglich wurde.
Intellekt und Empathie
Seither lassen sich innerhalb der Notationsgeschichte grob schematisiert zwei Tendenzen ausmachen, deren Quellen zwar in verschiedenen Kompositionsverfahren zu suchen sind, die aber letztendlich ein und denselben Ursprung haben: die neuartigen Be­ziehungen zwischen Klangraum und musikali­scher Zeit sowie zwischen Klang und Stille. Diese galt es so ein­deutig wie möglich darzustellen, um die sich daraus ergeben­den veränderten Klangorganisationen durch Interpreten reali­sieren zu können. Da wäre auf der einen Seite die Tendenz zum Ein­deutigen und Präzisen zu nennen, die im Zusammenhang zu sehen ist mit der Emanzipation des Konstruktiven im kom­positorischen Denken und dessen Implikationen mit der musi­kalischen Schrift. Auf der anderen Seite ist die Neigung zum Mehrdeutigen, Vagen und Unbestimmten zu konstatieren, resultierend aus der Einbeziehung von Zufallsoperationen in die musikalische Kompositions- und Aufführungspraxis. Diese beiden gegensätzlichen Er­schein­ungen stehen einander gegen­über, ergänzen sich, beeinflussen einan­der oder grenzen fundamental ver­schiedene Sphären gegeneinander ab.
Die erste Tendenz ist eng an die sogenannten seriellen Prinzi­pien gebunden, die zu Beginn der 50er Jahre eine wichtige und einflussreiche Kompositionsrichtung ausprägten und deren strukturelle Organisationsweisen auf zahlenkombinatorischen Verfahren aufbauen. In serieller Musik wurden Kompositions­techniken, die Arnold Schönberg und Anton Webern mit der Dodekaphonie entwickelten, konsequent weitergeführt bis hin zur mathematischen Codierung sowohl jedes einzelnen kom­positorischen Parameters wie Tonhöhe, Tondauer, Toninten­sität und Tonfarbe als auch des Tonsatzes hinsichtlich Dichte, Menge, Artikulation, Ambitus und Instrumentation. Die darin anvisierte Parität innerhalb und zwischen den einzelnen Para­metern führte nicht nur zur Auflösung darin begründeter Zusammenhänge und zur Konstituierung neuer Verhältnisse, sondern veränderte ebenso das Beziehungsgefüge zwischen den Parametern. Die überlieferte Symbolnotenschrift basiert aber bekanntlich auf dem funktional-harmonischen Denken, mit all seinen Implikationen einschließlich einer festgelegten hierarchischen Ordnung der musikalischen Parameter. Aus­druck eines solchen hierarchischen Denkens sind die bekann­ten Symbole innerhalb des fünflinigen Rasters. Bei diesem Schriftbild wird bestimmten Toneigenschaften, nämlich der Höhe und Dauer, Priorität gegenüber anderen (Intensität, Farbe) zuerkannt. „Die serielle Kompositions­technik aber räumt den ‚peripheren‘ Parametern das gleiche Recht auf Dif­ferenzierung ein, wie den ‚zentralen‘. Sie durchkreuzt die Hier­archie der Toneigenschaften, die der traditionellen Notation zugrunde liegt.“ (Carl Dahlhaus, 1965) Die Symbol­notenschrift ist zudem ausgerichtet auf die Darstellung metrischer, das heißt takt­rhythmischer Verhältnisse. Dabei beruht die tra­ditionelle Rhythmusnotation auf zwei Prinzipien: „sie ist einerseits multiplikativ (bzw. divisiv), andererseits binär. Die Zeichen der Achtel-, Viertel­-, Halben und Ganzen Noten stellen eine Reihe dar, der die Proportion 1:2:4:8 – und nicht 1:2:3:4 – zugrunde liegt. Und die Proportion 1:2:4:8 ent­spricht einer Rhythmik, in der zwei Unterteilungswerte eine Zählzeit, zwei Zählzeiten einen Halbtakt, zwei Halb­takte einen Takt und zwei Takte eine Phrase bilden … Eine rhythmische Skala, die der Reihe der ganzen Zahlen ent­spricht (1:2:3:4…), ist in der multiplikativen Notation nur durch das Anbinden von Noten vollständig darstellbar: durch ein Verfahren, das unverkennbar sekun­där ist. Das Bezugssystem, das der multiplikativen Notation zugrunde liegt, ist die Taktrhythmik; der seriellen Rhythmik ist die Notation inadäquat. Eine genaue Darstellung serieller Rhy­thmik wäre ein Notationssystem, in dem der fünfte Zeit­wert der Skala nicht als Viertelnote mit angebundener Sechzehntel, sondern als unzusammengesetzter Zeitwert er­scheint.“ (Carl Dahlhaus, 1965)
Sowohl die Loslösung von der Takt­rhythmik, als auch die stärkere Diffe­renzierung klanglicher und metrische rhyth­mischer Einheiten sowie das Bestreben, diese mittels der traditionellen Schrift mög­lichst präzis darzustellen, verur­sach­te schließlich ein über Gebühr kompliziertes Noten­bild, das in seiner Überbestimmtheit letztendlich kaum noch adäquat realisierbar ist. Die mögliche Genauigkeit von Notation auf dem Papier hat den Höhepunkt tatsäch­licher Kontrollierbarkeit der Ausführung überschritten und geriet in den Bereich menschlicher Verantwortung, wo sie aber­mals nur zur approximativen Andeutung und Sug­gestion von Handlungen wurde.“ (Carl Dahlhaus, 1965)
Zeichen und Zeichnung
In diesem Zusammenhang ist auch die nahezu unüber­schaubare Zeichenakkumulation zu sehen. Sie ist Ausdruck dafür, dass die überlieferte Schrift im Hinblick auf das neue Klangdenken ihre Grenzen erreicht hat. Klang hat sich von nun an zum gleichrangigen kompo­sitorischen Parameter emanzipiert, bestimmt nicht nur die Gestalt eines Werkes mit und erhält dadurch sozu­sagen thematische Bedeu­tung, sondern prägt darüber hinaus in besonderem Maße den Grad an Subtilität und Nuanciertheit von Musik. Voll­kommen neue Klangerzeuger werden ebenso verwendet wie neue Musizierformen entwickelt. Das meint nicht nur die Erfindungen im elektroakustischen Bereich, son­dern generell die Erweiterung der Klangpalette durch alle nur möglichen Geräusche. Hierzu zählt zum einen der größere Anteil des Geräusches am Ton, erzielt durch entsprechende Artikulationsweisen auf tradi­tionellen Instrumenten wie Überblaseffekte bei den Blasin­strumenten, Präparationen der Saiten eines Flügels oder Spiel auf dem Korpus bei den Streich­instrumenten, um nur einige wenige Beispiele aus dem großen Arsenal zu nennen. Zum anderen finden an sich kunstfremde Materialien und Klangerzeuger Verwendung.
Die hier angedeuteten primär struk­turellen Komplikationen der schriftlichen und akustischen Umsetzung gelten je­doch längst nicht als Hauptgrund für die Herausbildung neuer musikalischer Codierungsformen. Wesentlicher noch war die als zweite Tendenz gekennzeichnete Einbeziehung des Zufalls in den Kompo­sitions- und Aufführungsprozess seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Damit änderten sich die musikalischen Organi­sationsprinzipien grundsätzlich, was schließlich zur Auflösung der um 1600 etablierten Werkform führte.
Die Form einer Komposition blieb variabel, da sie nunmehr durch den Interpreten von Aufführung zu Aufführung nach intuitiven Entscheidungen immer wieder neu zusammenge­stellt werden konnte. Und es zeigte sich, dass derartige Vor­stellungen mittels einer interlinearen Entwurfsschrift, die von genauen Fest­legungen hin zu einer mehr bildhaft-assoziativen Informationsvermittlung tendiert, angemessener zu fixieren sind als mit der herkömmlichen Symbol­notenschrift. Diese sogenannte „Aktions­schrift“ vermittelt nicht mehr in erster Linie und exakt das, was erklingen soll, sondern gibt durch ver­bale Anweisungen unterschiedliche Lineaturen, Punkte, Flächen, Notenschriftfragmente u.ä. vor, wie der betreffende Klang zu erzeugen ist. Damit wird der Interpret unmittelbar zum kreativen Mitgestalter der Komposition, er erhält die Möglichkeit, spontan zu reagieren und eigene musikalische Vor­stellungen einzubringen. Gleichzeitig veränderte dies grundsätzlich den Status des Komponisten. Kulminations­punkte dieser Entwicklung sind die Musikalische Grafik und die Verbalpartitur.
Erwähnt sei noch, dass notations­technische Veränderungen über die Er­weiterung der klanglischen und rhyth­mischen hinaus auch aus der Ein­be­ziehung theatralischer Aktionen, ja, aller zur Verfügung stehenden Künste wie Film, Tanz, Pantomime, Malerei, Grafik usw. resultieren. Sie entstam­men also jenem ästhetischen Bereich zwischen „Theatrali­scher Musik“ und „Instrumentalem Theater“, durch den nicht zuletzt auch konventionelle Aufführungspraktiken im Konzertsaal aufgehoben werden. Auch wenn der sozia­le Bereich hier nur oberflächlich erwähnt werden kann, so ist doch auch wieder in unserem Jahrhundert zu beobach­ten, dass die Auflösung tradierter Kommunikationsfor­men, beispielsweise des Darbietungsmodells europäischer Konzertmusik, für die Mutation der musikalischen Schrift von entscheidender Bedeutung war und ist.
Freie Formen
Während sich in den frühen 50er Jahren des 20. Jahrhun­derts ein Großteil vor allem westeuropäischer Kompositio­nen immer mehr in Richtung des Kontrol­lierten, Systematischen, Logischen, bis ins Detail Organisierten entwickel­te, gewann zur selben Zeit in den USA eine Musik an Bedeutung, die musikalische Prozesse immer weniger rationalisierte und schließlich Elemente des Zufalls in den Rang einer eigenständigen kompo­sitorischen Kategorie erhob. Bereits seit 1949/50 ließen Komponisten wie John Cage, Morton Feldman, Earle Brown und Christian Wolff, jeder auf seine Weise, Zufallsmanipulationen in den Korn­positions- beziehungsweise Aufführungsprozess ein­fließen. Resultat waren Kompositionen von größerer Flexi­bilität, Offenheit und Mehrdeutigkeit, waren künstlerische Entwürfe, deren formaler Verlauf von variablen Elementen und entsprechenden Interpretations­freiheiten mitbe­stimmt wird. Musikalische Kausalität im europäischen Sinne konnte dadurch graduell und in bestimmten Kom­positionen generell außer Kraft gesetzt werden, wodurch zentrale europäische Ka­tegorien wie die der „Kompositi­on“ und die vom „Werk“ als ein in sich geschlossenes ästhetisches Gebilde damit letztendlich auf­gehoben wur­den.
Der Einfluss dieser nordamerikanischen Ideen sowie die am Ende der 50er Jahre zunehmende Kritik an der streng de­ter­minierten Ordnung der seriellen Ver­fahren bewirk­ten, dass zu Beginn der 60er Jahre Zufallsprinzipien auch in Europas musikalischer Praxis weit­reichende Verbreitung erfuhren. Wenn gegenwärtig derartige Verfahren durch eine Vielzahl von Termini, wie „Offene Form“, „Mobile Form“, „viel­deutige Form“, „Aleatorik“, „gelenkter Zufall“ oder „Zufalls­kom­position“ bezeichnet werden, so re­sultiert das nicht nur aus dem Versuch, unterschiedliche Formdispositionen in­ner­halb ein und desselben Prinzips, das heißt unterschiedliche Grade von Unbestimmtheit und Zufallseinbindung, zu katego­risieren, sondern es ist zugleich ein Hinweis darauf, dass sich derartige Phänomene einer definitiven Festlegung entziehen, da eine klare Abgrenzung zwischen ihnen kaum möglich ist. Viel­mehr sollte man ganz allgemein von In­determination der musikalischen Form sprechen, und darin alle entsprechenden Formen einbeziehen, sowohl freie An­ord­nungen musikalischer Strukturen als auch solche, die grundsätzlich dem Zufall über­lassen bleiben, die frei von vorgefassten Ideen sind und deren konkrete Gestalt in keiner Weise vorauszusehen ist.
Unschärferelationen
Gegenwärtig lassen sich drei Grund­prinzipien unterscheiden, die in der Praxis allerdings kaum in reiner Form auftreten, son­dern gleichwohl vermischt und übereinanderprojiziert erschei­nen. Da sind zunächst einmal zwei Verfahren zu nennen, die gegenwärtig pauschal unter dem Oberbegriff „Aleatorik“ zu­sam­mengefaßt. werden. Beim ersten gibt der Komponist den Verlauf des Stückes, also seine Form und Dauer, verbindlich vor und überlässt die Gestaltung der Details in dessen Inneren dem Interpreten, Das trifft zum Beispiel auf Witold Lutoslaws­kis Venezianische Spiele (1961), auf Krzystof Pendereckis Thre­nos (1961) oder Werke anderer, vorwiegend polnischer Auto­ren zu. Beim zweiten Verfahren werden die Einzelheiten genau fixiert, hingegen legt der Interpret die Anordnung der Formtei­le fest. Hierzu zählen die 3. Klaviersonate von Pierre Boulez (1955), das Klavierstück IX (1954/55) und Zyklus für einen Schlag­zeuger (1959) von Karlheinz Stock­hausen oder Mobile (1956) für zwei Kla­viere von Henri Pousseur.
Das dritte Verfahren schließlich ist in seiner konsequentesten Ausrichtung nahezu nur an einen Komponisten ge­bun­den, der damit zweifellos eine Sonder­stellung einnimmt: an den Ame­rikaner John Cage. Während die oben genannten Verfahren in gewissem Maße immer noch der herkömmlichen Vorstellung von „Komposition“ genügen, im Sinne der Arbeit mit instru­mental, vokal oder elektroakustisch erzeugten mehr oder weniger kausalen Tonverbindungen, versteht Cage alle verfüg­baren Klänge als Musik. Seines Erachtens „konnte jeder Klang durch die einfache Tatsache musikalisch werden, dass er in ein musikalisches Stück aufgenommen werden kann.“ Damit stellt er nicht nur den abendländischen Werkbegriff auf den Kopf, sondern grundsätzlich das Ver­ständnis dessen, was bis­lang un­ter „Komposition“ verstanden wurde. Wenn Pierre Bou­lez formuliert „Wir haben das ‚Zu-Ende‘ eines abendländischen ‚Werkes‘, seinen geschlossenen Kreis, respektiert und doch die ‚Chance‘ des orientalischen Werkes, seinen geöff­neten Verlauf, eingeführt“ , so ist das cha­rakteristisch für das Verständnis erst­genannter indeterminierter Formmodelle, die trotz freier Anordnung in den Grenzen mehr oder weniger vorgeschriebener Wahr­scheinlichkeit bleiben. Cages Unbe­stimmtheits-Kon­zept ist umfassender. Er besteht auf der konsequenten Aner­kennung von Zufallsoperationen, so dass, je nach Grad der Unbestimmtheit, prinzipiell alle musikalischen Parameter und Aufführungsmodalitäten unbestimmt bleiben können.
Ausgangspunkt seines Konzeptes ist die Neudefinition des Wesens der Stille, vornehmlich deren paritätische Gleichset­zung mit dem Klang. „Ich beabsichtige“ so schreibt Cage, „wie Satie oder Webern vorzugehen: Struktur entweder mit Klän­gen oder mit Stillen zu verdeutlichen.“ Dabei gibt es für ihn eine absolute Stille nicht. Er ist vielmehr der Ansicht, dass uns stets Klänge umgeben, auch in einem schalltoten Raum, in dem der eigene Körper zum „Objekt“ des Hörens wird. Das heißt, Stille ist „schon Klang und sie ist immer wieder Klang oder Geräusch“, sie ist „die Gesamtheit unbeaufsichtigter Klänge.“ Jedoch „Klang und Stille auszutauschen bedeutet vom Zufall abzuhängen.“ Stille meint also „die ganze Klang­weit, das Leben selbst; und ihr Erscheinen in der Musikwelt bedeutet das Ende dieser exklusiven Tätigkeit, Kunst genannt, durch die der Komponist eine isolierte Handlung ausführte, dazu bestimmt, die ‚Dunkelheit‘ zu erleuch­ten, nämlich die des chaotischen Alltags­lebens.”
Klangstille
Paradigmatisch für dieses Denken ist seine Komposition 4’33“; Tacet für beliebiges Instrument oder beliebige Kombi­nation von Instrumenten aus dem Jahre 1952. Innerhalb von vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden erklingt kein Ton im traditionel­len Sinne, verharrt der Interpret in Spielhaltung, ohne einen Klang oder auch nur ein Geräusch zu erzeugen: es herrscht Stille. Keine absolute Stille, denn alle Klänge, auch jene aus der Umgebung, die während dieser 4 Minuten und 33 Sekunden zufällig auftreten, können als Musik angesehen werden. Noch konsequenter verfährt Cage zehn Jahre später in einer Varian­te dieses Stückes, wie schon dessen Titel erkennen läßt 4’33“ (No. 2) (0’00‘, Solo, auf beliebige Weise von jedermann aufzu­führen).
Zunächst arbeitete Cage nur bei der Aus­arbeitung seiner Kom­positionen mit Zufallsoperationen, wobei er nach dem I Ging, einem alten chinesischen Orakel­buch verfuhr und die Klänge und ihre Abfolge durch das Werfen von Münzen festlegte, so dass das sub­­jektive Moment – der individuelle Ge­schmack und das Gedächtnis – aus dem Kom­po­sitions­prozess aus­ge­schal­tet wurde. Mög­lich­keiten eines schöpferischen Mitgestaltens des Inter­preten sah er bis 1955 nicht vor. Erst da­nach weitete er das Zufallsprinzip auch auf den Interpretationsprozess aus, wodurch die Kreativität des einzelnen Musikers herausgefor­dert wird, er zu einer neuen Frei­heit des Musizierens finden soll. Bei­spiel hierfür ist das Concert for piano and orchestra (1957/58), in welchem die Musiker frei nebeneinanderher musizieren, und der Dirigent nur die Funktion eines Zeitgebers besitzt: Weder er noch der Komponist üben damit ‚diktatori­sche‘ Macht über den Interpreten aus, der sich vielmehr frei entfalten kann. Überhaupt gründet dieses Verfah­ren auf einem sehr demokratischen Musikver­ständnis. Denn jeder Kommuni­kations­partner, vom Komponisten über den Interpreten bis hin zum Rezipienten, erhält die Möglichkeit, sich schöpferisch einzuschalten oder zu­min­dest die Art seines Verhaltens zu er­klingenden Musik selbst zu bestimmen und dementsprechend auch die emo­tionale Auseinandersetzung mit ihr.
Opera Aperta
All diese Prozesse leiteten Wandlungen des europäischen musikalischen Kommu­nikationspro­zesses ein. Vornehmlich wur­de der Darbietungs­mechanismus der bür­ger­lichen Konzertform in Frage gestellt. Damit waren letztendlich auch Zweifel an der Endgültigkeit des autonomen Kunst­werks ver­bunden. Man begann Formen des umgangsmäßigen Ge­brauchs von Musik wiederzuentdecken, Formen des aktiven Mitvollzugs des hörenden und sehenden Besuchers. Mitvoll­ziehen meint dabei nicht nur Eingreifen in die Musik durch aktive Klangerzeugung, sondern ebenso eine neue Qualität innerer Aktivität beim Hören, meint eine veränderte Form des Sich-in-Beziehung-Setzens zum akustischen Resultat durch den Hörer. Denn eine solche Musik will ihm kein be­stimmtes Verhalten, kein emotionales Empfinden aufzwingen, da hier weder Ge­dächtnis noch Vorwegnahme, die psychologischen Maximen der tradi­tio­nellen Musik, eine Rolle für die Qualität musikalischer Wahrnehmung spielen. Sie stellt den Hörer nicht unter intellektuellen Leistungszwang, vielmehr soll er nach eigenem Belieben seine Erfahrungen mit der Musik machen.
Alle Quellen anzuführen, die zur Einbindung des Zufalls in die musi­kalische Gestaltung führten, ist nicht mög­lich. Das würde den Rahmen dieses Programmheftes bei weitem sprengen. Verwiesen sei lediglich noch darauf, dass allen angedeuteten Prinzipien die Beschäftigung mit fern­öst­licher Philosophie gemeinsam ist, etwa mit dem Zen-Buddhismus und entspre­chenden musikalischen Strukturprinzipien wie beispielsweise den Tâla- und Râga-Systemen der Inder. John Cage wurde zudem inspiriert von den philosophischen und politischen Ideen desTranszendentalisten und Predigers Henry David Tho­reau, des Architekturphilosophen Buckminster Fuller und des Medienforschers Marshall McLuhan.
Ausschlaggebend für die Herausbildung freier Formen in Euro­pa waren darüber hinaus der Einfluss der Literatur, etwa die Arbeiten von Stephane Mallarmé oder James Joyce, und schließlich die inneren Widersprüche der seriellen Musik selbst. Denn „das serielle Verfahren war in ein Dilemma, in eine Unstimmigkeit zwischen Teil und Ganzem, geraten. Wurden die Einzelheiten eines musikalischen Textes in sämtlichen Toneigenschaften, in der Tonhöhe, Dauer, Lautstärke und Klangfarbe, durch Reihen bestimmt, so war, wenn man nach der Setzung der Regeln und Anfangsbe­dingungen die serielle Mechanik sich selbst über­ließ, die Gesamtform zufällig. Und umgekehrt: werden die Merkmale der Gesamtform, die Dauer der Teile, die Ordnung der Zeitmaße, durch eine Reihendisposition festgesetzt, so war es unmög­lich, die Details konsequent seriell auszuarbeiten. Die Idee einer Musik, die restlos aus einem einzi­gen Prinzip erwächst, in der also sowohl das Ganze als auch die Einzelheiten seriell determi­niert sind, erwies sich als utopisch: entweder ent­zog sich die Gesamtform oder aber das Detail dem Reihenprinzip und blieb, nach seriellen Kriterien, dem Zufall überlassen.“ (Carl Dahlhaus, 1972)
Farbakkorde
Als weitere Quelle muss auf Anregungen aus der bildenden Kunst hingewiesen werden, so auf Arbeiten Marcel Duchamps wie dessen Erratum musical (1913) oder Die Ehefrau, von ihren Jungge­sellen entblößt, selbst (1913), denen er ein Zufalls­arrangement zugrunde legte, oder auf die weißen Gemälde von Robert Rauschenberg, die John Cage inspirierten. Ebenso müssen die mobilen Kon­struktionen von Alexander Calder erwähnt wer­den, die „action-painting-Technik“ Jackson Pollocks, eine Methode des gleichzeitigen Kompo­nierens und Agierens, und das Buch Beyond pain­ting von Max Ernst, die Morton Feldman und Earle Brown anregten, spontane Entscheidungen, ins­besondere bei der Aufführung ihrer Kompositio­nen, einzubeziehen. Brown führte dazu aus: „Es ist bekannt, dass die Notation stets eine Quelle von Schwierigkeiten und Versagungen für den Kom­ponisten war, da sie eine relativ unvollkommene und unvollständige Transkription dessen dar­stellt, was ein Komponist traditionellerweise ‚hört‘, und es sollte keineswegs überraschen, dass ihre Entwicklung andauert. Sie dient als Vokabu­lar und Interpunktion einer abstrakten Sprache, deren Syntax potentiell unendlich ist. Die Schwie­rigkeiten, alle artikulierten und unartikulierten Wendungen beim ‚Sprechen‘ dieser Sprache zu bezeichnen, sind immens. Früher war ich sehr nei­disch auf die Maler, die unmittelbar mit der Rea­lität ihres Werkes umgehen können, ohne des indirekten und ungenauen Studiums der ‚Übersetzung‘ zu bedürfen. Ich pflegte sie im Gespräch zu fragen, ob sie sich vor­stellen könnten, dass sie sich hinsetzen und eine Reihe von Anweisungen schreiben müßten, nach denen ein anderer exakt zu malen vermochte, was sie selber bis in alle Einzelhei­ten malen. Ich habe viel über dieses Problem des unmittelba­ren Kontakts zwischen dem Komponisten und den Klängen nachgedacht, und dies hatte seine Auswirkungen auf meine Beschäftigung mit Notation und Ausführung – am offensichtlichsten in Folio und auf entfalteter Stufe in Available Forms, wo der Dirigent in der Tat mit einer Pallette kompo­nierter Klangereignisse ‚malt‘ (‚formt‘).“ (Earle Brown, 1952)
Es war also auch die musikalische Schrift selbst, die Methode des Fixierens von Musik, die letztendlich ein Umdenken und damit ihre eigenen Strukturveränderungen mit beförderte. „Die Geschichte der abendländischen Musik untersteht der Dialektik von musikalischer Aktion und Notation. Die Notation, die der Aktion, zunächst als Gedächtnisstütze, folgte, hatte eine Eigengesetzlichkeit entwickelt, die sie bald der Aktion vorgeordnet hat: die Orthographie nahm Einfluss auf die Grammatik. Die Reihenfolge Aktion – Notation, meint Improvisation – Tradition, ist die Reihenfolge Aktion – Notation, meint Komposition – Interpretation, umge­schlagen.“ (Ulrich Siegele, 1972) Hierbei handelt es sich um einen Prozess, der sich über mehrere Jahrhun­derte erstreckte und in dessen Verlauf immer weitere Merkmale der Musik – zunächst die Tonhöhe und die Tondauer, später das Tempo, die Dynamik und die Klangfarbe – in die Schrift übergingen, also aus einer Sache der Interpretation zu einem Teilmoment der Komposition wurden.
Mit der Einbeziehung von Zufallsoperationen wurde dieser Prozess nunmehr gestoppt und letztendlich in sein Gegenteil verkehrt. Der Spielraum zwischen Auf­zeichnung und Ausführung erweiterte sich wieder bei solchen Kompositionen, die längst nicht mehr alle musikalischen Parameter schriftlich festlegen konnten. Die Schrift passte sich vielmehr der Flexibilität der neuen Formdispositionen an, dient damit nicht mehr ausschließlich der genauen Kontrolle, sondern fördert spontane Entscheidungen. Vom genauen Plan zur Erzeugung von Klängen wandelte sie sich wieder zu einer mehr oder weniger präzisen Umschreibung von Tätigkeiten zu ihrer Hervorbringung. Mehr noch: durch mobile Formen, die in den frühen 50er Jahren vor­nehmlich von Morton Feldman und John Cage enwickelt wurden, erlangte Notation durch bildhafte Eigenständigkeit erstmals in ihrer Geschichte Autono­mie gegenüber dem klingenden Ereignis. Damit verän­derte sie mehr oder weniger auch die Funktion von Musik beziehungsweise stimulierte die Ausprägung neuer Gattungen, wie die der Musikalischen Grafik. Kompositionen, die derartig offen und mehrdeutig notiert sind, haben, mit Ausnahme der „Musikalischen Grafik“, ihre reale Form letztendlich weniger im festgeschriebenen Noten­text als vielmehr in der Aufführung. So hat dann auch John Cage das Concert for piano and orchestra nicht mehr in Parti­turform, sondern in einzelnen Stimmen fixiert oder die Parti­tur der Variations V (1965) a posteriori nach der Aufführung niedergeschrieben. „Das änderte unsere Vorstellung davon, was eine Partitur ist. Bis jetzt war sie für uns immer ein Aprio­ri und die Aufführung war die Aufführung einer Partitur. Ich habe das vollständig auf den Kopf gestellt, sodass die Partitur jetzt ein Bericht der Aufführung ist:‘ Dies hat jedoch nicht nur Folgen für die Funktion einer Partitur, sondern umfasst auch grundlegend die Mutation der sozialen Stellung des Komponisten, der in diesem Falle eher als Chronist denn als Komponist zu begreifen ist.
Musikalische Grafik
Schlagwortartige Termini besitzen stets eine besondere Eigenart. Blitzartig erhellen sie nur bestimmte Aspekte des Gemeinten, während sie andere im Dunklen lassen. Nicht anders verhält es sich mit diesem von Roman Haubenstock-Ramati gepräg­ten Begriff. Eindeutig verweist er nur auf ein Kon­zept im ästhetischen Spannungsfeld von Musik und bildender Kunst, das sich bestenfalls auf Musik und Grafik reduzieren läßt. Doch auch deren Beziehungen und Korrelationen sind so vielschichtig und vielgestaltig, dass im Hinblick auf eine Beschreibung des ästhetischen Bereichs, auf den er ursächlich zielt, weiter eingegrenzt werden muss. So können wir davon ausgehen, dass es sich dabei nicht um bildnerisch-musikalische Kunstwerke handelt, die von bereits bestehenden Kompositio­nen ausgehen und deren musikalische Struktur sozusagen visualisieren wie die streng geometri­schen Gebilde von Jakob Weder, Heinrich Neugeboren oder Ellen Banks. Ebensowenig bezeichnet Musikalische Grafik die colla­geartige Aufbereitung handschriftlicher Partituren von Bach bis Strawinsky, bei­spielsweise durch Jiri Kolar und Lazlö Lakner, oder solche intermediären Werke wie die des synchronistischen Maler-Komponisten Morgan Russel, der Kompo­sitionen zu seinen Bildern nach deren Ausführung entwarf.
Gemeint ist vielmehr ein musikalisches Phänomen innerhalb der bildenden Kunst, das eine Doppelfunktion als musi­kalisches Zeichensystem und autonome Zeichnung zu erfüllen hat. Dieser Dop­pelcharakter ist entscheidend bei der begrifflichen Bestimmung und Wertung derartiger künstlerischer Entwürfe. Ein Definitionsversuch, der die Musikalische Grafik als eine in bildästhetischen Qualitäten sublimierte musikalische Schrift festlegt, die sowohl als Anweisung zum Produzieren von Tönen gedacht ist als auch als autonomes Bild, das man sich sozusa­gen an die Wand hängen kann, scheint daher auf den ersten Blick gerechtfertigt, ist aber nicht vorbehaltlos zu akzeptieren. So lässt er solche Arbeiten außer Betracht, die ausdrücklich nicht Vorlage einer musikalischen Interpretation sein wollen, wohl aber als musikalische Erfindung zu verstehen sind. Hier­zu zählen eine ganze Reihe durch die „Concept Art“ inspirierte Blätter von Haubenstock-Ramati. Ein ästhetischer wie kompo­sitionstechnischer Zugang zur Musikalischen Grafik einzig und allein über die musikalische Schrift, wie er ursprünglich von Haubenstock-Ramati selbst durch seine Definition als „mehr­deutige Notation“ vorgenommen wurde, ist dem Gegenstand also nicht vollends angemessen, da er sich wesentlichen Krite­rien der bildnerischen Notation verschließt und damit dem semantischen Aspekt Priorität gegenüber dem visuell-ästheti­schen einräumt. Eine Definition müßte paritätisch beide Sei­ten einbeziehen, was sich in der Praxis allerdings als proble­matisch darstellt.
Denn der Sachverhalt entzieht sich bei einem genaueren Bestimmungsversuch der exakten Definition, da die Grenze zwischen Zeichen und Zeichnung, zwischen musikalischer Schrift und autonomer Grafik, fließend ist, zumal auch auto­nom gedachte grafische Elemente Zeichenfunktion erfüllen können. Beispielsweise eignet sich die grautönige Schattie­rung des Untergrunds eines Blattes, also ein an sich rein bildästhetisches Detail, ausgezeichnet zur Darstellung von Intensitäten jeglicher Art, worunter sowohl Lautstärkegrade als auch ganz allgemein Intensität der musikali­schen Aktionen verstanden werden können.
Vom Ornament zur Autonomie
Obwohl Vorformen in den reich verzierten Tabulaturen des späten Mittelalters ebenso nachweisbar sind wie in den grafisch vielgestaltigen Madrigal­kompositionen der Renaissance, die unter ande­rem kreisförmig notiert wurden, können derartige künstlerische Gebilde erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts als eigenständiger ästhetischer Bereich betrachtet werden. Direkte philosophische, ästhetische und kompositionstechnische Quellen Musikali­scher Grafik sind denn auch erst zu Beginn des 20. Jahrhun­derts nachweisbar. Den Grundstock bilden zwei grundlegende Gemeinsamkeiten verschiedenster künstlerisch-avantgardisti­scher Bestrebungen dieser Zeit. Da wären auf der einen Seite Tendenzen zur Fusionierung der einzelnen Kunstgattungen zu nennen. Hierzu zählen die kalligrafischen Gedichte Guillaume Apollinaires, die typografischen Versuche EI Lissitzkys und solche Simultan­kunstwerke wie Sport et divertissement (1914) von Erik Satie. Er und sein Freund Marcel Duchamp haben im Grunde auch die geistige Haltung zum Ordnungsmechanismus der Musikalischen Grafik mitgeprägt. Denken wir nur an die veränderte Funktion der Musik in Saties Musique d’ameublement (1920) oder an Duchamps spezifische Gestaltung seines Erratum musicale, der zudem bereits ein Zufallsprinzip zugrunde liegt.
Hinzuweisen ist auch auf die Bestrebungen zwischen 1905 und 1915, die einer abstrakten Bildsprache in der bildenden Kunst die Musik als Leitbild zugrunde legten. Vornehmlich deren Immaterialität und ihr Raum-Zeit-Kontinuum empfanden die bildenden Künstler jener Zeit als mögliche produktive Erweiterungen ihres Medi­ums, die sie zu übertragen suchten. Das äußerte sich letztend­lich im Aufbrechen des einheitlichen Bildraums, in der Freiset­zung von Motivteilen, vor allen Dingen aber in der Verselbst­ändigung von Strukturen und Farben sowie in einer zuneh­menden Dynamisierung der Bildsprache. „Die Frage der Zeit in der Malerei steht für sich und ist sehr kompliziert. Vor einigen Jahren begann man auch hier eine Mauer niederzuschlagen. Diese Mauer teilte bisher zwei Kunstgebiete voneinander – das der Malerei und das der Musik“ , schrieb Wassily Kandinsky noch 1926 in seinem Traktat Punkt und Linie zu Fläche, in welchem er neben anderen Aspekten, die theoretischen Grundlagen zu Zeit­phänomenen in der Malerei legte. Den Punkt defi­niert er als „zeitlich knappste Form“, wohingegen bei der Linie „der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische“ vollzogen wird. „Während der Punkt nur eine Spannung in sich trägt und keine Richtung besitzt, hat die Linie hingegen sowohl Spannung als auch Richtung. Das heißt, der Linie ist das Element der Zeit immanent – die Länge ist ein Zeitbegriff“. Dabei ist das Nachgehen einer Geraden vom Nachgehen einer Gebogenen zeit­lich verschieden, „wenn die Längen auch diesel­ben sind, und je bewegter die Gebogene, desto mehr dehnt sie sich zeitlich aus. In der Linie sind also die Möglichkeiten der Zeitverwendung sehr mannigfaltig. Die Verwendung der Zeit in der Horizontalen und in der Vertikalen ist auch bei gleichen Längen unterschiedlich gefärbt.“
Die Einflüsse Kandinskys auf die Pioniere der europäischen Musikalischen Grafik der 50er Jahre werden offenkundig, wenn Haubenstock-Ramati, „die horizontale Achse eines Blattes als die der Zeit (Zeit = Raum) und die vertikale als die der Tonhöhe (unten = tief, oben = hoch)“ definiert und „Punkt, Linie und Fläche – die Grundelemente der abstrakten Malerei und Grafik – zu den Grundelemente der Aufzeichnung von Musik“ macht. „Ent­scheidend ist dabei die Tatsache, dass nun die abstrakte Form eines Bildes durch das zeitgebundene musikalische Denken entstanden ist.“ Natürlich war Haubenstock-Ramati bekannt, dass Punkt, Linie und Fläche nicht die einzigen Grundelemente der sogenannten gegenstandslosen Malerei sind. Sie wurden für ihn als Musiker aber vorrangig interessant, weil sie im Schwarz-Weiß-Bereich der bildnerischen Notation, einem Bereich, der der musikalischen Notation im Grunde genügt, von besonderer Bedeutung sind.
Auch in Anestis Logothetis‘ Arbeiten mit ihrer relativ streng determinierten Zeichengebung sind direkte Einflüsse Kandins­kys nachweisbar. Logothetis funktioniert unterschiedliche äußere Formen des Punktes in suggestive Notengestalten von komplexer Funktion um und macht sich damit Kandinskys Vor­stellungen zur Variabilität und relativen inneren Färbung des Grundklanges eines Punktes zu eigen. Darüber hinaus ent­wickelt er auf der Raum-Zeit-Basis assoziative „Aktionssignale“. Damit wird die abstrakte autonome Bildsprache der bil­denden Künstler wieder ihrem Ursprung, der Musik, zugeführt. Dieser Prozess ging einher mit der Emanzipation der musikali­schen Schrift, die nun nicht mehr ausschließlich die Funktion von Reproduzierbarkeit musikalischer Gedanken auszuüben hatte, sondern durch Arbeiten von Morton Feldman (Projec­tions, lntersections) und John Cage zu bildhafter Eigenständig­keit gelangte, das heisst autonomen Charakter erhielt und damit ihrerseits grundlegend auf die Funktion von Musik ein­wirken konnte. John Cage war es auch, der die philosophischen Grundlagen lieferte und sich mit seinen außermusikalischen Plexigrammen (1969) am weitesten auf das Gebiet der bilden­den Kunst begab. So, wie seitens der bildenden Kunst Kandins­ky in Europa die musikalischen Grafiker inspirierte, waren es in den USA Jackson Pollock mit seinem spontanen Gestalten und Alexander Calder mit seinen mobilen Konstruktionen. Earle Brown, der erstmals 1952/53 in seinen Folio-Stücken diese Ein­flüsse in eine wechselseitige Beziehung zueinander setzte und mit dem Blatt december 1952 eine von Anweisungen erstmals völlig freie Bild-Partitur, die erste Musikalische Grafik, vorlegte, schreibt dazu: „Für mich musste die Beweglichkeit (oder Veränderlichkeit) eines Werkes während der Aufführung aktiviert wer­den (eben wie in einem Mobile von Calder) sie mus­ste spontan und intensiv durch den Ausführenden ausgedrückt werden, ganz wie in der Unmittelbarkeit des Kontakts zwischen Pollock und seinen Lein­wänden und Materialien. Diese beiden Elemente: Beweglichkeit der Klangbe­standteile innerhalb des Werkes und grafische Provokation einer intensiven Mitarbeit des Ausführenden waren für mich die faszinierenden neuen Möglichkeiten für ‚Klangobjekte‘ analog der Skulptur und Malerei.‘
Action Painting und Klangflächen
So verwundert denn auch nicht, dass die amerikanischen Musik-Grafiker die Musikalische Grafik nicht mehr allein nach Sichtbarmachung von Strukturen und Funktionen begriffen, sondern als ein „lebendiges Wesen“, als eine unmittelbare, ja ungestüme Aktion.
Nun handelt es sich aber längst nicht bei allen ausge­prägt grafisch fixierten Arbeiten automatisch um Musikalische Grafik. Vielmehr resultiert die überwie­gende Mehrzahl neuer Darstellungsformen aus dem einfachen wie praktischen Grund, die traditionelle Notenschrift zu erweitern, um sie den gegebenen musikalischen Bedingungen anzupassen. Sie bleiben im Bereich der musikalischen Schrift, ohne ins auto­nom Bildhafte überführt zu werden, wie im Orgelstück Volumina (1962/66) von Györgi Ligeti in den Multiple-Stücken (1970) von Haubenstock-Ramati oder in Cages Aria (1958). Erst wenn der größte Teil der gewählten Zeichen nicht präzis definiert ist, wenn die Elemente eine beabsichtigte grafische Eigenständigkeit besitzen, das heißt bildästhethische Qualitäten dominieren, kann von Musikalischer Grafik gesprochen werden.
Beim überwiegenden Teil dieser Arbeiten wird Zeit gleich Raum gesetzt. Die Vorlage ist nur in Ausnahme­fällen in traditioneller Leserichtung von links nach rechts zu lesen. Ansonsten kann das Auge das Blatt spiralförmig, von links nach rechts und umgekehrt, von oben nach unten und umgekehrt „abtasten“, kontinuierlich oder in Sprüngen, einige Elemente auslassend, andere dagegen mehrfach wiederho­lend. Häufig muss der Interpret selbst entscheiden, ob die Einzelheiten der Grafik relativ exakt aku­stisch umzusetzen sind, oder ob der gesamte Ein­druck des Blattes zur Realisation anregen soll. Im zweiten Fall sind Proportionen ohne Belang. Wird dagegen eine möglichst exakte Reali­sation der Ein­zelzeichen angestrebt, sollten diese zunächst in ein bestimmtes Verhältnis sowohl zur Grundfläche des Blattes als auch zueinander gesetzt werden. Erst dann erfolgt deren klangliche Deutung entsprechend ihres individuellen grafischen Charakters. Dabei sind die einzelnen Elemente keineswegs unbegrenzt interpretierbar. Die Stärke einer Lineatur zum Beispiel kann sich auf die Klangstärke, die Klangdichte, die Klangdauer oder den Klangumfang oder auch auf alle vier Parameter zugleich beziehen. Die Entscheidung liegt einzig und allein beim Interpreten. In jedem Falle weist aber die Linie auf die Kontinuität eines Ereignisses hin. Durch Flächen hingegen sollen Klangfelder assoziiert werden, in denen ein bestimmter Duktus vorherrscht. Dabei gibt die gra­fische Strukturierung der Fläche Hinweise auf die musikalische Struktur. Die so fixierten Klangfelder können sich sowohl aus statischen als auch aus dynamischen Einzelklängen, die als Einheit empfunden werden sollen, zusammensetzen.
Verbreitet ist die Meinung, dass bei einer musikalischen Inter­pretation die Lage des Blattes generell gleichgültig sein, dass das Blatt sozusagen je nach Belieben gedreht und gewendet werden kann. Das entspricht keineswegs immer den Vorstel­lungen des Schöpfers, weil dadurch die Spannungsverhältnis­se, die durch das Format des Blattes mitbestimmt werden, nicht stimmig bleiben. Die Instru­mentation ist bei den meisten Musi­kali­schen Grafiken freigestellt, um einer­seits eine reich­haltige Klangfärbung zu ermöglichen und andererseits die Ent­wicklung neuer Klangerzeuger anzuregen beziehungswei­se die um­fassen­de Nutzung der vorhandenen.

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